1. 2 Wahrer Gott und wahrer Mensch

Das Lernziel des zweiten der drei ersten Stücke lautet: Die Person von Jesus ist einzigartig. Das zeigt sich beim Lesen der Berichte von ihm und im Vergleich zu dem anderen grossen Religionsstifter, Buddha. Das Geheimnisvolle, Schwierige und Wunderbare ist: Der Gott des Evangeliums will nicht herrschen mit Macht. Denn er will am Ende nicht Marionetten, sondern Kinder um sich haben.
(Hier hat die Personalisierung und Individualisierung der modernen Zeit ihr innerstes Recht. Darum trifft dieses Stück beim Unterrichten oft auf eine tiefe Zustimmung. Gleichzeitig gilt es gerade hier, die moderne Sentimentalität und schamlose Selbstbezogenheit mit der biblischen Botschaft neu auszurichten.)

Grundlage für diesen Unterrichtsschritt ist ein Durchgang durch die Evangelien. Das geschieht sinnvollerwiese in einem Wechsel der Methoden: Gemeinsame und stille Lektüre im Klassenverband, verweise oder mit verteilten Rollen, gefolgt von anschaulich ausgeweiteten oder knapp zusammenfassenden Erzählungen und wiederum vertiefenden Gesprächen. Zur Abwechslung und Bereicherung können einzelne Perikopen (oder gar ein ganzes Kapitel) gehört (und mitgelesen) werden in der Aufnahme der Deutschen Bibelgesellschaft. Das Ergebnis der einzelnen Lektüreschritte lässt sich substantiell zusammenfassen, indem man bei jeder Evangeliengeschichte wieder fragt: Was hat Jesus in ihr mit allen anderen Menschen gemeinsam? Und wo unterscheidet er sich von ihnen?

Am Ende kann man das zusammentragen und formuliert damit, was im Jahr 451 im Dogma von Chalcedon festgehalten wurde: Jesus ist wahrer Gott und wahrer Mensch.

Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die Versuchungsgeschichte. Nicht umsonst ist sie im Umbruch zur Moderne prominent bearbeitet worden vom russischen Dichter Fjodor M. Dostojewski. Offensichtlich thematisiert sie genau das, was fast alle westlichen Menschen (ohne dass ihnen dies bewusst ist) als Voraussetzung ihrer Lebensziele mit sich tragen: Die Frage nach der Wahrheit und dem Recht wird entschieden durch die Antwort von Macht, Erfolg und Wohlbefinden (Machiavelli, Marx, Freud, Nietzsche).
Die Geschichte von der Versuchung spannt innerbiblisch den Bogen zurück an den Anfang und vergegenwärtigt, was allen Menschen ins Herz gelegt ist: Die Lüge der Schlange (1. Mose 3,5), die sogenannte Ur- oder Erbsünde. Sie lebt in dem omnipräsent irrlichternden Gottesbild, das besagt: Gott ist ein Richter, der um gut und böse weiss und von oben herab Macht ausübt. Die präzise Lektüre der Versuchungsgeschichte zeigt, wie diese tief in unserem Denken und Wollen wurzelnde Gottesvorstellung von Jesus überwunden wird, indem er sich auf die Worte der Heiligen Schriften seines Volkes beruft.

In diesem Zusammenhang kann eine grosse spekulative Frage erwachen: Hat Gott die Welt erschaffen, weil er den „altbösen Feind“, den Teufel und seine Heerscharen, überwinden wollte mit Hilfe seiner Geschöpfe? Will er diese reifen lassen, bis sie zu seinen Mitarbeitern und erbberechtigten Kindern werden? Eine solche Frage ist als Spekulation gewiss erlaubt. Mehr als das darf sie nicht sein.

Didaktisch hilfreich ist der kritische Bezug auf die Jesusfilme, die in hohem Mass mitverantwortlich sind für das, was die Menschen unserer Tage von Jesus wissen und denken. Es fördert das Verstehen, wenn kurze Ausschnitte unterschiedlicher Jesusfilme anschaulich machen, wie verschieden die Evangelien ins Bild gesetzt werden, ohne dass sich sagen lässt: Das ist richtig und jenes falsch.

Besonders gut eignet sich dazu die Verschungsgeschichte, wie sie im evangelistischen Film von Campus für Christus (Minute 18:00) und sehr anders in dem psychologisierenden, von Roger Young inszenierten Kinofilm „Jesus“ (Minute 38:00) in Szene gesetzt wird.

Der Vergleich mit dem Lebensweg des Prinzen Gautama, dem Buddha, darf nicht den unsinnigen Anspruch erheben, in die reich ausdifferenzierten buddhistischen Erkenntnisse. und Lebensformen einzuführen. Das ist für das Lernziel auch nicht notwendig! Es geht um einen ganz elementaren Vergleich: Weil das Evangelium für sich beansprucht, die Botschaft eines Gottes zu sein, der von ausserhalb in das Leben seiner Schöpfung wirkt, kann es den Menschen Hilfe versprechen. Der Buddha hingegen lehrt, dass die Menschen sich selber helfen müssen und können. Im Kern verspricht der Buddha das Ende von allem Leid, während Jesus verspricht, dass sich das Leid in Freude verwandelt.

Didaktisch sinnvoll ist, die legendarische Geschichte des Buddha möglichst packend und schön zu erzählen. In ihr wird die Klage über das Unrecht, das Leid und die Vergänglichkeit in einfache, ergreifende Erfahrungsbilder gefasst. Weiterführend und vertiefend kann man auch eine der vielen Kindergeschichten zum Buddha erzählen.

Kurze Sequenzen aus zeitgenössischen Dokumentarfilmen können deutlich machen, wie anspruchsvoll der Weg ist, den die Menschen gehen, die ernsthaft den Weg zu der Erlösung gehen, den der Buddha lehrt. Besonders eindrücklich ist der Tagesablauf der Mönche im japanischen Zenkloster Eiheiji (wobei die Einblicke in diesem kurzen Youtubefilm allzu kurz sind).

Ein Blick in einen Ausschnitt des Palikanons widerlegt die billige Rede, dass alle Religionen dasselbe lehren: Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich mich übe in der Kunst, mit dem steten Gedanken an das widerkehrende Leid die Lebensgier zu töten, oder ob ich mich übe in der Kunst, an die Zusage und an den Trost Jesu zu glauben.